Schanghai so weit das Auge reicht: Megacitys werden immer größer, die natürliche Pflanzendecke schrumpft zusammen – das zeigt sich nun auch in der Gewichtsverteilung.
Foto: APA/AFP/JOHANNES EISELE

Völlig ohne Dialoge oder handelnde Personen und ausschließlich von Musik und wuchtigen Aufnahmen getragen, setzte "Koyaanisqatsi" 1982 eine vom Menschen geprägte Welt eindringlich ins Bild. In wechselnden Zeitraffer- und Zeitlupensequenzen von Landschaften und hektischen Metropolen schufen Regisseur Godfrey Reggio und Komponist Philip Glass ein filmisches Kaleidoskop, das vor allem eines dokumentieren soll: das kontinuierliche Auseinanderdriften von Natur und menschlicher Zivilisation. Das Wort Koyaanisqatsi stammt aus der Sprache der Hopi in Arizona und bedeutet etwa so viel wie "Leben im Ungleichgewicht".

Bedenkliche Gewichtsverteilung

Heute, annähernd 40 Jahre nach der Uraufführung von Reggios Experimentalfilm (der auch in voller Länge auf Youtube zu sehen ist), befindet sich die Welt nicht nur metaphorisch aus dem Lot, in einem Koyaanisqatsi-Zustand, wenn man so will – auch ganz im ursprünglichen Sinn des Wortes sind Natur und Menschenwerk mittlerweile aus dem Gleichgewicht geraten: Seit heuer nämlich wiegen alle existierenden künstlichen Strukturen zusammen mehr als die gesamte Biomasse unseres Planeten. Das imagemäßig ohnehin schon angeschlagene Jahr 2020 markiert damit einen symbolischen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte.

Begonnen hat diese Entwicklung freilich schon spätestens mit der neolithischen Revolution, dem erstmaligen Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht. Seit vor über 12.000 Jahren die Jäger- und Sammlerkulturen allmählich sesshaften Gesellschaftsformen wichen, hat der Mensch die weltweite pflanzliche Biomasse durch Landwirtschaft und Entwaldung von ursprünglich etwa zwei Teratonnen (2.000 Milliarden Tonnen) auf den aktuellen Wert von rund einer Teratonne halbiert. Dem steht mittlerweile eine gewaltige Anhäufung von anthropogener Masse gegenüber. Das Gesamtgewicht all dieser Gebäude, Straßen, Maschinen und Verpackungsmaterialien ist, wie die Weltbevölkerung, in den vergangenen hundert Jahren einem exponentiellen Wachstum unterworfen gewesen: Alle 20 Jahre hat sich das Gesamtgewicht dieser Strukturen verdoppelt.

Die Entwicklungskurven menschengemachter Materialien und Biomasse (ohne Wasser) haben sich vermutlich schon gekreuzt.
Grafik: Ron Milo et al./Weizmann Institute of Science

1.100 Milliarden Tonnen

Um zu diesen im Fachjournal "Nature" vorgestellten Ergebnissen zu gelangen, hat ein Team um Ron Milo vom Weizmann-Institut für Wissenschaften (Rehovot, Israel) zahlreiche Studien zu Veränderungen bei der globalen Biomasse und anthropogener Masse analysiert und ihre Entwicklungen von 1900 bis heute einander gegenübergestellt. Dabei zeigte sich: Während das Gesamtgewicht der von Menschen produzierten Objekte Anfang des letzten Jahrhunderts noch drei Prozent der weltweiten Biomasse entsprach, beläuft sich die Masse künstlicher Strukturen heute auf etwa 1,1 Teratonnen, was bereits deutlich mehr ist als alles, was auf diesem Planeten lebt.

Die Biomasse – gemeint ist in der Studie die Trockenmasse ohne Wasser – blieb dagegen in diesem Zeitraum annähernd konstant. Sie wird zum überwiegenden Teil von den Agrar- und Wildpflanzen dominiert, die zusammen 90 Prozent ausmachen. Der Rest sind Bakterien, Pilze, Protisten und schließlich Tiere, zu denen hier auch die menschliche Weltbevölkerung gezählt wird. Man sieht also, im buchstäblichen Sinn fällt der Mensch praktisch nicht ins Gewicht.

Video: Was hinter der Studie steckt.
Weizmann Institute of Science

30 Gigatonnen kommen pro Jahr dazu

Bei der anthropogenen Masse wiederum bilden Gebäude, Straßen und sogenannte Aggregate, also etwa künstlich hergestellter Schotter, den Löwenanteil, gefolgt von Kunststoffen, Glas, Metallen und anderen Materialien. Im Fünfjahresschnitt liegt der jährliche Zuwachs dieser Dinge bei etwa 30 Gigatonnen. Mit anderen Worten: Für jeden Erdenmenschen wird pro Woche mehr als sein Körpergewicht an künstlichen Objekten produziert. Natürlich beruhen die Zahlen auf (wenn auch wohlbegründeten) Schätzungen. Bei der globalen Biomasse gehen die Forscher von einer 16-prozentigen Unsicherheit aus, bei der anthropogenen Masse sind es sechs Prozent.

Dementsprechend sei auch der tatsächliche Kipppunkt, an dem alles Künstliche das Übergewicht bekam, nicht ganz exakt zu bestimmen. Der Trend freilich ist unbestritten: Setzt er sich in gleichem Maße fort, könnten 2040 alle menschlichen Produkte zusammen bis zu drei Teratonnen wiegen – das wäre dann das Dreifache der Masse allen Lebens.

Am Ende von "Koyaanisqatsi" steht eine prophetische Warnung der Hopi: "Wenn wir wertvolle Dinge aus dem Boden graben, laden wir das Unglück ein. Wenn der Tag der Reinigung nah ist, werden sich Spinnweben hin und her über den Himmel spannen. Ein Behälter voller Asche wird vom Himmel fallen, der das Land verbrennt und die Ozeane zum Kochen bringt." Vermutlich braucht es keine Weisheiten der amerikanischen Ureinwohner, um zu erkennen, dass das beschleunigte Wachstum für uns Menschen kein gutes Ende nehmen könnte. (Thomas Bergmayr, 10.12.2020)