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Polens Premier Mateusz Morawiecki (li.) und sein ungarischer Amtskollege Viktor Orbán – hier bei einem Treffen der Visegrád-Gruppe im September – zogen im Vorfeld des EU-Gipfels vom Donnerstag an einem Strang

Foto: AP / Czarek Sokolowski

Brüssel – Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn beschäftigt einmal mehr die Europäische Union – und das ausgerechnet in einer besonders heiklen Phase, in der die Billigung des EU-Haushalts für die nächsten sieben Jahre und die Auszahlung von Corona-Hilfsgeldern beschlossen werden soll. Beide Länder legen sich quer, weil sie sich gegen die Koppelung der Ausschüttung von EU-Geld an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zur Wehr setzen. Beim Video-Gipfel am Donnerstagabend sollte das Thema nun erneut besprochen werden, auch wenn zunächst noch keine Beschlüsse erwartet wurden.

Dabei ist der Konflikt alles andere als neu: Bereits 2017 hatte die EU-Kommission gegen Warschau ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge auf den Weg gebracht. 2018 folgte dann ein ähnliches Verfahren gegen Budapest, diesmal auf Initiative des Europäischen Parlaments. Erreicht wurde dabei bisher nicht allzu viel. Grund: Das mehrstufige Prozedere ist überaus komplex. Zudem müsste auf dem Weg zu einer Sanktionierung – im Extremfall dem Entzug der Stimmrechte im Europäischen Rat – einstimmig festgestellt werden, dass ein Land rechtsstaatliche Prinzipien verletzt. Solange Polen und Ungarn einander Unterstützung zusichern, gilt dieses Szenario als ausgeschlossen.

Untergrabung der Gewaltenteilung

Beiden Ländern wird vor allem vorgeworfen, mit der politischen Einflussnahme auf die Gerichte im eigenen Land die Gewaltenteilung zu untergraben. Auch die Gängelung von Medien oder NGOs wird immer wieder kritisiert. Unabhängig von den genannten – politischen – "Artikel-7-Verfahren" hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) in diversen Vertragsverletzungsverfahren auch juristisch mehreren Kritikpunkten angeschlossen.

Die Einigung auf einen Mechanismus, der die Auszahlung von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit im Land knüpfen soll, konnten Polen und Ungarn nicht verhindern – hier reichte ein Mehrheitsbeschluss der Mitgliedsstaaten. Tschechien und die Slowakei, die beiden anderen Mitglieder der so genannten Visegrád-Gruppe, die mit Polen und Ungarn in vielen Fragen an einem Strang ziehen, unterstützten ihre "V4"-Partner diesmal nicht. Bei der Debatte um das Budget und die eng damit verbundenen Corona-Hilfen können Warschau und Budapest jedoch mit ihrem Veto die Finanzgebahrung der Union vorerst blockieren.

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat am Donnerstag vor dem Gipfel "Reformen und Rechtsstaatlichkeit" jedoch als "Basis" für die Auszahlung von EU-Geld bezeichnet. "Jetzt wird in der EU sehr viel Steuergeld in einem noch nie da gewesenen Ausmaß in Anspruch genommen. Es wird aber nur dann europäisches Geld fließen, wenn Reformen durchgeführt werden und die Rechtsstaatlichkeit eingehalten wird", betonte er seinen Standpunkt.

Mögliche Umgehung

Bereits seit Tagen gibt es entsprechende Überlegungen, ob und wie die Europäische Union dieses Veto gegen das 1,8 Billionen schwere EU-Finanzpaket umgehen könnte. Die EU könnte etwa eine jährliche Verlängerung des aktuellen Budgets beschließen, sodass die Verabschiedung des Finanzrahmens für 2021–2027 nicht unbedingt notwendig sei. Der Corona-Hilfsfonds könne wiederum mittels der sogenannten verstärkten Zusammenarbeit der anderen 25 Mitgliedsländer beschlossen werden. In einem Kommentar für das Mediennetzwerk "Project Syndicate" hat das zuletzt auch der US-Financier und liberale Philanthrop George Soros gefordert.

Soros, der selbst aus Ungarn stammt, beklagte dabei vor allem die Korruption und die Untergrabung des Rechtsstaates durch die rechtsnationale Regierung von Viktor Orbán in seinem Heimatland. "Orbán hat in Ungarn ein ausgeklügeltes kleptokratisches System aufgebaut, um dem Land auch noch das letzte Hemd zu rauben." Er nannte als aktuelle Beispiele die Übertragung öffentlicher Gelder in Stiftungen sowie die Änderungen in Verfassung und Wahlgesetz. Soros schlug daher vor, die EU-Finanzmittel lieber den jeweiligen Gemeindebehörden zur Verfügung zu stellen: "Dort gibt es noch eine funktionierende Demokratie in Ungarn, anders als auf nationaler Ebene."

Der Videogipfel der EU-Staats- und -Regierungschefs am Donnerstagabend sollte vor allem dem Austausch zur aktuellen Corona-Situation in der EU gelten. Bezüglich des EU-Finanzpakets aus mehrjährigem Finanrahmen und EU-Wiederaufbaufonds werde die deutsche Ratspräsidentschaft lediglich einen Überblick über den Stand der Dinge geben, sagte ein Diplomat. Spekulationen darüber, ob eine Lösung für den Recovery-Fonds auch auf zwischenstaatlicher Basis ohne Polen und Ungarn gefunden werden könne, wurden von einem ranghohen EU-Vertreter zurückgewiesen. Zum jetzigen Zeitpunkt sollten zuerst Ungarn und Polen sagen, was sie wollten, hieß es.

Keine Zugeständnisse an Polen und Ungarn

Ziel sei, den mit dem Europäischen Parlament gefundenen Kompromiss umzusetzen. "Das ist die rote Linie", so der EU-Vertreter. In Hinblick auf das EU-Budget gebe es klare Verfahren, verwies der Diplomat auf die im Vertrag festgelegten Bestimmungen für einen Nothaushalt, sollte es keine Einigung auf einen Eigenmittelbeschluss der EU-Staaten geben. "Von unserer Seite werden keine weiteren Zugeständnisse gemacht", teilten Parlamentspräsident David Sassoli und die Fraktionsvorsitzenden am Mittwoch mit. Die "erzielten Vereinbarungen" zum EU-Budget und zum Rechtsstaatlichkeitsprinzip können "unter keinen Umständen wieder aufgeschnürt werden".

Diskutiert wird nach Angaben eines Vertreters der EU-Kommission auch, ob man Polen und Ungarn anbietet, das Verfahren bei der Prüfung der Rechtsstaatlichkeit genauer festzulegen.

Die Regierungen in Warschau und Budapest kritisieren Pläne, EU-Gelder bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien zu kürzen.
Foto: AFP / John Thys

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki verteidigte indes die Blockadehaltung seines Landes. "Eine EU, in der es eine europäische Oligarchie gibt, die die Schwächsten bestraft, ist nicht die EU, der wir beigetreten sind", erklärte er am Mittwoch im polnischen Parlament. "Wir sagen Ja zur Europäischen Union, aber Nein dazu, wie Kinder bestraft zu werden."

Beratungen zu Corona-Situation und Brexit

Auch in Hinblick auf die Bekämpfung der Corona-Pandemie dürfte der EU-Gipfel wenig Neues bringen. Zu erwarten waren laut Diplomaten Informationen über den Impfstoff und eine Diskussion über Teststrategien, wo die EU koordinierter vorgehen wolle. Auch ein Exit der Lockdowns sollte so vorgenommen werden, dass es zu keinen grenzüberschreitenden Problemen komme.

Der Gipfel könnte auch noch zum laufenden Stand der Post-Brexit-Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Großbritannien beraten. Es sei nun höchst an der Zeit, Vorbereitungen für den Fall zu treffen, dass es zu keiner Einigung komme, sagte ein ranghoher Diplomat. (red)