Lydia beginnt nach der Geburt ihres Sohnes mit der Chemotherapie. Später werden ihr die Haare rasiert.

Foto: Eva Wöckl

Wenn eine nahestehende Person stirbt, ist die Stimme und die Art, wie diese Person gesprochen hat, etwas, das man als Erstes vergisst. Das kann traurigerweise auch der 29-jährige Andreas Hargassner aus Aurolzmünster in Oberösterreich bestätigen. Seine Frau Lydia ist am 10. August dieses Jahres an Blasenkrebs gestorben. Damit ihre Stimme niemals in Vergessenheit gerät, hat sie den beiden Söhnen (zwei und fünf Jahre alt) ein besonderes Geschenk hinterlassen. Ein Familienhörbuch, in dem sie ihren Kindern noch selbst die Geschichten aus ihrer Jugend erzählt, wie sie den Papa kennenlernte, wie ihr erster Kuss war. Auch wenn sie ihnen beim Erzählen nicht mehr gegenübersitzen kann. "Eigentlich wollte Lydia selbst verschiedene Dinge aufnehmen und hatte sich auch bereits ein Mikrofon dafür gekauft. Dann fand sie das Familienhörbuch-Projekt und kontaktierte Judith Grümmer", erzählt Andreas.

Das eigene Leben als Hörbuch

Das Projekt Familienhörbuch wurde von Judith Grümmer 2017 in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Bonn ins Leben gerufen und bietet jungen Palliativpatienten mit kleinen und heranwachsenden Kindern die Möglichkeit, ihre Lebensgeschichte in Form eines Hörbuchs zu erzählen. Die Produktion des Hörbuchs ist für die unheilbar kranken Eltern kostenlos und wird über Spenden finanziert. Durchschnittlich drei Tage nehmen sich die Sterbenden Zeit, um ihre Geschichte zu teilen. Die Arbeit daran soll kein trauriger Abschied sein, sondern ein Hochleben des gelebten Lebens. "Wir schauen mit den Patient*innen nicht auf das abgeerntete Feld, sondern auf die volle Scheune. Dabei sprechen wir über die wundervollen Momente, die ihr Leben ausgemacht hat, lachen über den Schabernack, den sie getrieben haben, hören uns nochmal an, wie viel Liebe ihnen geschenkt wurde. Als Audiobiografen sind mein Team und ich wie Mitfahrende auf einer langen Zugfahrt, denen man Dinge anvertraut, die man mit seinen Engsten vielleicht nicht teilen kann. Danach verarbeiten wir das Erzählte in eine Hörgeschichte mit Dramaturgie, Hintergrundmusik, Kapiteln und Aufbau", berichtet Grümmer. In das Hörbuch von Lydia flossen über hundert Arbeitsstunden. Es ist in verschiedene Kapitel aufgebaut, die unterschiedliche Themen und auch Menschen ansprechen. So gibt es Kapitel für den hinterbliebenen Ehemann Andreas, die Kinder, aber auch Lydias Eltern und ihre besten Freunde. Diese wurden jeweils mit persönlicher Musik, Sounddesign und Geräuschen hinterlegt und sollen ein Geschenk für die nächsten Jahrzehnte für ihre Hinterbliebenen sein. Auch wenn es einige Zeit dauern kann, bis der richtige Moment gekommen ist, in das Hörbuch reinzuhören: "Bisher habe ich es emotional noch nicht geschafft, mir anzuhören, was meine Frau mit uns teilen wollte", sagt Andreas. "Der Abschied ist noch zu frisch. Jeder Tag ist anders, doch die Abende, wenn es dunkel und leise wird und die Kinder im Bett sind, sind schwierig. Ich war immer ein Typ, der seine Gefühle in sich reingefressen hat. Das versuche ich gerade für meine beiden Söhne zu ändern. Sie sollen sehen, dass Gefühle nichts sind, wofür man sich schämen muss. Sie dürfen und sollen ihre Mutter vermissen. Sie war ein wunderbarer Mensch."

Lydia mit ihrem jüngeren Sohn Raphael.
Foto: Eva Wöckl

Lydia Hargassner bekam die Diagnose Blasenkrebs, als sie mit ihrem jüngsten Sohn Raphael schwanger war. Als die Ärzte merkten, dass etwas nicht stimmte, hatte Lydia bereits eine böse Vorahnung. "Das war im Februar 2018. Wir wussten zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass sie Krebs hatte, aber sie hatte ein schlechtes Gefühl. Sie wünschte sich, dass wir so schnell wie möglich heiraten. Und so haben wir am Standesamt angerufen und uns den nächsten freien Termin geben lassen. Am 1.3.2018 haben wir standesamtlich geheiratet. Nur wir beide", erzählt Andreas. Aufgrund der Schwangerschaft konnte der Tumor nicht sofort behandelt werden, die Gesundheit ihres ungeborenen Sohnes stand für Lydia an erster Stelle. Als Raphael dann zur Welt kam, ging die Therapie los. Obwohl sie zweieinhalb Jahre alles versuchte, erlag sie im August dieses Jahres ihrer Krankheit. "Lydia hat bis zum Schluss für unsere Kinder gekämpft und ihren Humor nicht verloren. Als sie erstmals die Idee äußerte, ein Familienhörbuch zu machen, war ich skeptisch. Ich dachte nur daran, dass wir wertvolle Zeit mit ihr verlieren würden. Heute glaube ich, dass es das Beste war, das sie machen konnte. Für unsere Kinder wird dieses Erinnerungsstück so extrem wichtig sein, davon bin ich überzeugt."

Lydia und Andreas entscheiden sich spontan zu heiraten. Sie nehmen den nächsten freien Termin beim Standesamt.
Foto: Eva Wöckl

Trauerbewältigung

Diese Einschätzung bestätigt auch die Wissenschaft hinter dem Projekt. Das Universitätsklinikum Bonn wählt die Teilnehmer für das Projekt aus, bereitet diese im Vorhinein auf die Arbeit mit dem Aufnahmeteam vor und führt auch ein psychoonkologisches Nachgespräch. Das gesamte Projekt ist in die Medizin eingebunden und kein Geschäftsmodell. Im Rahmen der Zusammenarbeit erkannte das Klinikum, dass die Möglichkeit, sich nochmal auf seine Geschichte, seine Erfahrungen und Erlebnisse zu konzentrieren, dazu führt, dass die Patienten sich auch mit ihren Stärken auseinandersetzen. Und dadurch Tools in die Hand bekommen, um mit dieser schweren Erkrankung besser umgehen zu können. Es wurde festgestellt, dass die Lebensqualität der Patienten messbar anhand der Fragebögen anstieg, und es gibt Hinweise, dass auch die Symptome als weniger schwer empfunden werden. Den Kindern der Verstorbenen hilft das Hörbuch zusätzlich bei der Trauerbewältigung.

Ein Erinnerungsfoto an eine unbeschwerte Zeit als Familie. Andreas und Lydia mit ihrem ersten Kind Samuel.
Foto: Eva Wöckl

Aktuell wird das Projekt weiter ausgebaut. Zusätzliche Audiobiografen für das Team der Familienhörbuch GmbH werden von Judith Grümmer gemeinsam mit der Bonner Uniklinik ausgebildet und zertifiziert. Die Arbeit mit den Kranken muss gelernt sein. Zusätzlich wird das gemeinnützige Projekt von vielen helfenden Händen im Hintergrund unterstützt, die dies ehrenamtlich tun. "Ich bin davon überzeugt, dass die Hörbücher für alle Familien kostenfrei sein müssen. Wir finanzieren uns ausschließlich über Spenden, und ich vertraue dabei auf die Solidarität der Menschen, die sich durch das Projekt berührt fühlen. Diese Woche wurde ich von einigen Kindern kontaktiert. Die Mutter ihres Spielkameraden ist unheilbar krank und die Kinder wollten helfen. Sie haben Lavendelsäckchen befüllt, an ihre Nachbarn verkauft und insgesamt 400 Euro gesammelt. Für mich ist es ganz wichtig, dass Kranke durch unsere Arbeit an ihrer eigenen Lebensgeschichte auch in der Familien oder im Freundeskreis die oftmals verzweifelte Sprachlosigkeit aufbrechen. Sie sollen wieder miteinander ins Gespräch kommen und über das nahende Ende des Lebens sprechen können", sagt Grümmer.

Spendensammlung kurz vor dem Tod

Auch Lydia hat dieses Gespräch kurz vor ihrem Tod nochmal angestoßen. Als ihr Familienhörbuch fertig produziert war, startete sie eine Spendenaktion, um anderen Familien die Produktion zu ermöglichen. Sie teilte ihre Geschichte in Form einer Bilderserie, zeigte Bilder aus dem Kreißsaal bei der Geburt von Raphael, als ihre Haare rasiert wurden, aber auch glückliche Familienbilder oder ihr Hochzeitsfoto. Mithilfe von Freunden sammelte sie über 12.000 Euro. Die Sammlung ging auch nach ihrem Tod weiter und hat inzwischen über zwei Millionen Menschen erreicht. Andreas Hargassner ist stolz auf seine starke Frau: "Lydia war zu diesem Zeitpunkt schon im Krankenhaus und hatte Schmerzen. Aber trotzdem hat sie so viel Energie darin gesteckt, diese Spendensammlung voranzutreiben. Dieses Projekt war ihr unglaublich wichtig und hat ihr zum Ende hin nochmal starken Auftrieb gegeben. Sie wollte auch anderen Familien in unserer Situation ein Hörbuch ermöglichen."