Ist Emmanuel Macron zu weit gegangen? Die ab Samstag gültige Sperrstunde für neun französische Großstädte sorgt vor allem in Paris für einen "Wind der Revolte", wie die gutbürgerliche Zeitung "Le Figaro" voller Sorge berichtet. Die 16- bis 25-Jährigen verstünden nicht, warum sie nach 21 Uhr nicht mehr ins Kino oder die Disko dürften, während die Züge und die Metro – wo man zeitweise sehr eng steht – weiterhin verkehrten. Dabei hatte Macron alles versucht, um sich am Donnerstag bei seiner Ankündigung so verständnisvoll wie möglich zu geben. "Es ist hart, im Jahre 2020 zwanzig Jahre alt zu sein", meinte er mit mitfühlender Stimme.

Das Linksblatt "Libération" wirft dem 42-jährigen Präsidenten dennoch vor, er setze "den Deckel auf" Paris. Das ist ein Wortspiel mit dem Begriff Sperrstunde, der auf Französisch "Abdeckung des Feuers" (couvre-feu) heißt. Und das Feuer gehe in der Lichterstadt, aber auch in Studentenstädten wie Marseille oder Montpellier völlig aus, moniert "Libé", um nüchtern zu resümieren: "Macron heiligt die Arbeit und opfert die Nacht."

Polizisten kontrollieren ein Pariser Lokal auf die Einhaltung der Corona-Bestimmungen.
Foto: AFP/Coex

Widerspruch sogar in der Regierung

Anders gesagt: Er unterbinde das Sozialleben – das nun einmal abends stattfinde – einzig, um das Arbeitsleben zu retten. Und das kann namentlich in Paris, wo Arbeiten im besten Fall Mittel zum Zweck ist, nicht durchgehen. Die Wirte, Barkeeper, Theater- und Kinobesitzer fragen in den Medien, warum ihr Geschäft schließen müsse, um die übrige Landeswirtschaft zu retten; sie gehörten schließlich auch zu dieser Wirtschaft. Kulturministerin Roselyne Bachelot verlangte von ihrer eigenen Regierung, dass Theater und Kinos bis 22 Uhr offen halten könnten, um eine 20-Uhr-Vorstellungen abhalten zu können.

Nachtclubbesitzer betonten diese Woche bei mehreren Protestkundgebungen, in Frankreich habe sich bisher keine einzige Diskothek als Covid-Hotspot erwiesen. Die 12.000 Polizisten, die die Einhaltung der Sperrstunde ab Samstag kontrollieren müssten, stünden oft enger beisammen als die selten gewordenen Tänzerinnen und Tänzer in den Clubs. Immerhin müssen die Flics eine Schutzmaske tragen. Generell scheint es, dass die Pariserinnen und Pariser die neusten Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus noch weniger akzeptieren als den vollständigen Lockdown im Frühjahr.

Castex sieht "keine Alternative"

Im April und Mai hatten alle 65 Millionen Franzosen gleichermaßen zu Hause bleiben müssen. Nun trifft es einige stärker als andere: Die neun Städte, darunter auch Lyon, Toulouse und Lille, kommen zusammen auf 18 Millionen Einwohner. Und auch in Paris mit seinen zwölf Millionen Bewohnern sind die Jugendlichen am meisten getroffen. Allerdings gelten sie, wie Macron am Donnerstag nur andeutete, als hauptsächliche Spreader, das heißt: Virusverbreiter. Premierminister Jean Castex wiederholt seither fast stündlich, es gebe keine Alternative zur Sperrstunde.

Damit sorgt er für zunehmend wütende Reaktionen, obwohl ihm die Zahlen recht geben. Am Donnerstag wurden erstmals überhaupt mehr als 30.000 Franzosen binnen 24 Stunden angesteckt – ein Zeichen mehr, dass die zweite Corona-Welle voll über Frankreich schwappt. Die Bußen wegen Verletzung der Sperrstunde (21 Uhr bis 6 Uhr in der Früh) betragen 135 Euro, bei Rückfälligkeit sogar 1.500 Euro. Aber in Paris ging das Ausgehen schon immer ins Geld. (Stefan Brändle aus Paris, 16.10.2020)