Googelt man den Begriff "Altersschwäche", erhält man gleich auf der ersten Seite Ergebnisse, die einen belehren, dass das Phänomen der Vergangenheit angehört. "Altersschwäche ade – Deutsche Forscher bremsen das Alter" lautet etwa eine Schlagzeile des Mitteldeutschen Rundfunks.

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Ein Beitrag auf der Website Wissenschaft.de trägt den tröstlichen Titel: An Altersschwäche stirbt kaum jemand. Darin wird über neuseeländische Forscher berichtet, die hunderte Leichen von über Neunzigjährigen obduziert haben. Mit dem Ergebnis, dass 95 Prozent dieser Betagten an allem Möglichen verschieden sind, von der Herzerkrankung bis zur Lungenentzündung, nur nicht an Altersschwäche. Woran wohl die restlichen fünf Prozent verstorben sein mögen? Sicher an einer bislang unentdeckten Krankheit. Denn wer stirbt heutzutage noch an etwas so Altmodischem wie Altersschwäche?

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Eine alte Frau während des Covid-19-Shutdowns im Frühjahr 2020 in der italienischen Stadt Bergamo, von dort kennen wir ganz andere Bilder aus Medien.
Foto: Picturedesk/Sergio Agazzi

Welche Todesursache?

Denkt man solche Befunde zu Ende, dann ergibt sich zwangsläufig eine bemerkenswerte Schlussfolgerung: Sollte es einem gelingen, sich bis ins hohe Alter sämtliche schlimme Krankheiten vom Leib zu halten, dann stirbt man womöglich überhaupt nicht. Woran denn auch? Der Schweizer Arzt Martin Niederhauser berichtet im Swiss Medical Forum von einem interessanten Fall aus seiner Hausarztpraxis: "Die 85-jährige Urgroßmutter mit etwas erhöhtem Blutdruck, leichter Diabetes und etwas Osteoporose geht am Abend normal zu Bett, und am Morgen steht sie nicht mehr auf.

Man findet sie tot im Bett, Anzeichen eines Todeskampfes fehlen, sie ist friedlich eingeschlafen. Woran ist diese Urgroßmutter nun gestorben? Der Hausarzt hat ja die wichtige Pflicht, eine außergewöhnliche Todesursache festzustellen. Er wird dann einfach Herzschlag schreiben, wobei das eigentlich falsch ist, diese Urgroßmutter ist nicht an einer Herzkrankheit gestorben, sondern an der häufigsten Todesursache in der Schweiz, nämlich an hohem Alter, und genau diese kann man nicht codieren." Der Arzt hatte es vor Jahren einmal versucht und tatsächlich "Altersschwäche" in das Formular eingetragen. Mit dem Ergebnis, dass ihn der zuständige Beamte verzweifelt anrief und klagte, er könne den Fall nicht ad acta legen, weil es keinen Code für Altersschwäche gebe.

Erfunden wurde der Begriff vom deutschen Arzt und Psychiatrie-Pionier Johann Christian Reil um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, zu einer Zeit also, als die Menschen allmählich begannen, ein schwächendes Alter zu erreichen. Gut 200 Jahre später macht sich eine stark überalterte Gesellschaft daran, den Begriff wieder abzuschaffen, weil er nicht mehr zum herrschenden Bild von allumfassender medizinischer Machbarkeit passt. Einher damit geht ein verräterischer Sprachwandel. Schon bald wird es gar keine Alten mehr geben. In den Medien ist nur noch von "älteren Menschen" die Rede, ein Komparativ, von dem sich im Grunde niemand betroffen fühlen muss. Schließlich gibt es immer Menschen, die älter sind als man selbst.

Geschwächtes Immunsystem

Das Problem bei der medizinischen Beurteilung ist, dass Altersschwäche eben keine Krankheit ist, sondern sich nur bisweilen wie eine anfühlt. Im Alter verlieren wir an Leistungs- und Widerstandskraft, indem wir alles Erdenkliche abbauen: Organ-, Muskel- und Gewebemasse, Knochendichte, Potenz, Gedächtnisleistung, Seh- und Hörvermögen. Das liegt nun einmal in unserer Natur.

Eine persönliche Erinnerung: Meine Mutter war am Ende ihres Lebens bettlägerig und pflegebedürftig. In ihren letzten Monaten hatte sie nur noch das Gewicht eines Kindes und war nicht mehr ansprechbar. Irgendwann verweigerte sie dann die Nahrung. Der behandelnde Arzt überließ mir als einzigem Angehörigen die Entscheidung, ob er eine Magensonde zur künstlichen Ernährung legen sollte. Ich beriet mich mit der Sachwalterin meiner Mutter, und sie beschwor mich händeringend: "Tun Sie es nicht!"

Aus ihrer Praxis kannte sie zahlreiche Fälle, in denen Menschen mit einer Magensonde in ihren Betten dahinsiechten und einfach nicht und nicht sterben konnten. "Menschen sterben nicht, weil sich nicht essen, sondern sie essen nicht, weil sie sterben", schreibt die Gründerin der Hospizbewegung, Cicely Saunders. Die Nahrungsverweigerung meiner Mutter war ihre Art zu signalisieren, dass ihre Zeit gekommen war.

Leider entschlummern nicht alle altersschwachen Menschen so sanft wie die erwähnte Schweizer Urgroßmutter. Denn der Abbau im Alter bringt auch ein geschwächtes Immunsystem mit sich. Dann werden Infektionserkrankungen, die man in jüngeren Jahren leicht überstanden hätte, zu einer Attacke, die der Körper nicht mehr bewältigen kann. Das kann eine Grippe sein oder auch – wie derzeit häufig – Covid-19. Meine Mutter zog sich schließlich einen Niereninfekt zu, an dem sie dann verstarb. Im Grunde ist sie aber an jener Schwäche verschieden, die das Alter irgendwann für uns alle bereithält, auch wenn wir es nicht mehr so nennen wollen.

Flächendeckende Übertherapie

Dass wir den Menschen keine Altersschwäche mehr zugestehen, hat oft fatale Folgen für die Betagten, deren Leben sich dem Ende zuneigt. Von "flächendeckender Übertherapie" spricht Gian Domenico Borasio, Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne: "Bis zur Hälfte aller Sterbenskranken erhalten nach Studienlage Behandlungen wie zum Beispiel Chemotherapie, Bestrahlung, künstliche Ernährung oder Antibiotika, die ihnen nichts bringen oder sogar schaden."

Die Gesundheitsindustrie hat natürlich kein Interesse daran, diesen menschenfeindlichen Aberwitz abzustellen, weil sie enorme Summen mit dem Lebensende von Menschen verdient. Ein solcher Umgang mit dem Sterben passt zu einer Gesellschaft, die es sich zur Maxime gesetzt hat, keinerlei natürlichen Grenzen mehr zu respektieren, schon gar nicht die eigenen. Jugendkult und Fitnesswahn haben zu einer verbreiteten Strategie der Selbstoptimierung geführt, als sei der Mensch eine Maschine, die bei entsprechender Wartung und Pflege ein Maximum an Output und Lebensdauer garantiert.

Der Gedanke, dass der Mensch ein naturwüchsiges Wesen mit bemessener Lebenszeit ist, passt nicht mehr ins Konzept. Den Vorgang des Sterbens überantworten wir einem medizinischen System, für das der Mensch alles sein darf, nur nicht sterblich. Ein Hoffnungsschimmer sind allenfalls die Palliativstationen, die in immer mehr Krankenhäusern eingerichtet werden. Hier bekommen Menschen, was sie brauchen und was ihnen hilft.

Wie schlecht wir auf die Konfrontation mit der Hinfälligkeit des Lebens vorbereitet waren, hat sich nicht zuletzt in der Corona-Krise gezeigt. Der Ernst der Lage wurde uns in dem Moment vor Augen geführt, als die irritierenden Bilder aus dem italienischen Bergamo kamen, mit zahlreichen Infizierten in überfüllten Krankenhäusern. Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Videobericht auf Spiegel-Online. Ein Reporter geht durch einen großen Raum, der dicht an dicht mit belegten Krankenhausbetten gefüllt ist. Am Bett eines alten Mannes mit entblößtem Oberkörper bleibt er stehen.

Das Gesicht des Patienten ist nicht erkennbar, er trägt eine Sauerstoffmaske und ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Der Mann hat eine Lungenentzündung und kämpft um sein Leben. Die Kamera schwenkt von dem Körper des Leidenden zum Gesicht des Reporters, der erklärt, dass sich der alte Mann jede Minute aufbäumt und mit letzter Kraftanstrengung nach Luft ringt. Und er fügt mit betroffener Miene hinzu, durch diesen Anblick so erschüttert zu sein, dass er nun jeden Einzelnen seiner eigenen Atemzüge spürt.

Was niemand sehen will

Diese eigentümliche Vermischung der personalen Ebenen, die mitleidend-voyeuristische Identifikation von Beobachter und Betroffenem, sollte symptomatisch werden für den gesamten Verlauf der Krise. Zwar werden Experten und Expertinnen nicht müde zu betonen, dass eine Corona-Infektion fast ausschließlich für vorerkrankte und alte Menschen lebensgefährlich sei. Bei den allermeisten Infizierten nimmt die Krankheit hingegen, ähnlich wie jede Grippe, einen harmlosen bis mittelschweren Verlauf.

Im Tiroler Ischgl hatten 85 Prozent der positiv Getesteten nicht einmal bemerkt, dass sie infiziert waren. Doch mit dem Bericht war genau jenes Bild wieder in der Welt, das zuvor partout niemand mehr sehen wollte: Ein alter Mensch liegt im Sterben. Und niemand fragt, was an seinem Zustand dem Alter, was einer möglichen Vorerkrankung und was dem Virus geschuldet war.

Die Bilder treffen uns wie ein Schock, das Verdrängte holt uns mit grausamen Geschichten von hinfälligen alten Menschen ein. Und die Bilder haben Folgen. Tote und Infizierte werden fortan zu einer Fixierung, losgelöst von jedem Kontext. Der Skandal ist von Anfang an nicht etwa, dass das italienische Gesundheitssystem so katastrophal ausgestattet ist, dass es mit dem Ausbruch einer solchen Epidemie auf der Stelle heillos überfordert ist. Der Skandal ist nur noch, dass die Menschen sterben.

Die nachvollziehbare Sorge um die Funktionsfähigkeit unserer Krankenhäuser wird nicht mehr getrennt von der – völlig irrationalen – Angst um unser aller Leib und Leben. Hinter den Masken, die das Atmen schwer machen, keimt bei vielen die Panik, dass eine Corona-Infektion ein sicheres Todesurteil bedeutet. Wer so radikal verleugnet, was Altersschwäche ist, der verliert nur allzu leicht aus dem Blick, dass er eigentlich gar nicht davon betroffen ist. Plötzlich sehen wir alle alt aus.

Zahlen ohne Bezugsgrößen

Die Medien greifen die Stimmung auf und reagieren völlig kopflos, befeuert von einem österreichischen Bundeskanzler, der gezielt auf den Faktor Angst setzt und vor 100.000 Toten warnt: "Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist."

Täglich werden uns in den Medien die aktuellen Infektions- und Todeszahlen aus aller Welt geliefert. Und wie es sich für eine auf Sportlichkeit und Fitness getrimmte Welt gehört, geschieht das in Form von Rankings. Wer führt in der Rubrik der Corona-Toten, wer ist Zweiter, wer holt auf? Wo wird gerade ein neuer Rekord in der Disziplin der Neuinfektionen pro Tag gebrochen? Selten wird einem die Irrationalität von vermeintlich rationalen Statistiken drastischer vor Augen geführt.

Hier werden Zahlen genannt, die im Grunde gar nichts aussagen, weil sie ohne Bezugsgrößen geliefert werden. Was sagt die Infektionszahl in einem Land aus, wenn man nicht weiß, wie viele Menschen dort pro Kopf getestet wurden? Ja, wenn die Anzahl der Infizierten nicht einmal mit der Größe der Bevölkerung in Relation gesetzt wird? Brasilien führt vor Bulgarien – wer hätte das gedacht? Und was sagt eine Todeszahl in einem Land aus, wenn sie weder mit der Größe der Bevölkerung noch mit der üblichen Sterblichkeitsrate, etwa an Grippetoten, in Bezug gesetzt wird? Oder wenn man die Dunkelziffer an Infizierten nicht einmal ahnt. Auch wird beim Todesranking schon gar nicht unterschieden, ob die Menschen an oder mit dem Virus gestorben sind. Fällt etwa ein Patient, der sich im finalen Stadium einer Krebserkrankung mit Corona infiziert, in diese Statistik? Schließlich wird bei diesen Corona-Rankings nie die Qualität der Gesundheitssysteme in den jeweiligen Ländern berücksichtigt. Als hätte es keinerlei Einfluss auf die Opferzahlen beim derzeitigen Weltrekordhalter USA, dass das reichste Land der Erde über ein gesundheitspolitisches Apartheidsystem verfügt.

Enormer Zeitdruck

Österreich darf nicht Italien werden! Das war zu Beginn der Krise die erklärte Maxime der Regierung. Man mag diese Annahme eines Worst-Case-Szenarios noch als berechtigte Vorsicht von Verantwortlichen betrachten, die in einer unberechenbaren Situation unter enormem Zeitdruck standen. Dass aber in der Folge die meisten etablierten Medien nicht als Korrektiv fungierten, sondern sich freiwillig zu reinen Verlautbarungsorganen der Regierung degradiert haben, ist erschreckend. Es wurde nie darauf hingewiesen, dass etwa das italienische Gesundheitssystem nicht mit dem österreichischen vergleichbar ist, weil es nicht über gleiche hygienische Standards und vor allem über eine wesentlich geringere Zahl an Intensivbetten pro Kopf verfügt.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Hier soll keineswegs dem bisweilen geäußerten Zynismus das Wort geredet werden, dass man kranke oder alte Menschen während einer solchen Krise getrost sich selbst überlassen kann, weil sie ohnehin an irgendetwas sterben müssen. Jeder Mensch verdient in jeder Phase seines Lebens den Schutz und die medizinische Betreuung, die er benötigt. Lebenszeit ist immer kostbar, solange sie gewünscht und als lebenswert empfunden wird. Ganz nebenbei: Auch viele alte Menschen überstehen eine Covid-19-Infektion.

Aber ist in der Corona-Krise wirklich eine neue Selbstlosigkeit in uns erwacht, die uns in die Lage versetzt, für jedes Menschenleben, ja für jeden gewonnenen Tag an Lebenszeit jeden Preis zu zahlen? Ich habe da meine Zweifel. Wir haben überreagiert, weil uns mit Bildern von sterbenden Menschen die so gründlich verdrängte Hinfälligkeit der menschlichen Existenz vor Augen geführt wird. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so etwas passiert, Verdrängungen brechen immer irgendwann auf. Das Coronavirus hat sich dafür so gut geeignet, weil niemand dagegen immun war und weil es sich weltweit so rasant ausbreiten konnte. Und weil die Angst sich durch die aberwitzigen globalisierten Ländervergleiche von einer nationalen Hysterie zu einer planetaren Panik auswachsen konnte.

Wertschätzung des Lebens

Die moralischen Dimensionen stimmen nicht. Wie oft nehmen wir Medienberichte über den den Verlust von Menschenleben achselzuckend zur Kenntnis: über tausende Todesopfer im Straßenverkehr etwa oder über Hunderttausende von alten oder vorerkrankten Menschen, die laut Angaben der Europäischen Umweltagentur Jahr für Jahr an den Folgen von Feinstaubbelastung vorzeitig sterben. Um viele dieser Menschenleben zu retten, wäre kein milliardenschwerer Shutdown nötig gewesen.

Tempolimits und temporäre Fahrverbote in den Krisenzonen hätten ausgereicht. Aber wir waren nicht einmal bereit, diesen Menschen zuliebe unsere Mobilitätsgewohnheiten zu ändern. Und jetzt sind wir plötzlich in der Lage, zum Schutz von bedrohten Menschenleben das gesamte öffentliche Leben und die komplette Wirtschaft stillstehen zu lassen? So fixiert sind wir auf diese vermeintlich ganz und gar einzigartige Bedrohung, dass uns solche Widersprüche nicht auffallen.

Es wird sich schon bald zeigen, wie nachhaltig unsere neu entdeckte Wertschätzung des Lebens sein wird. Die nächste Epidemie kommt bestimmt. In Deutschland sind allein in der Grippesaison 2017/18 mehr als 25.000 Menschen gestorben, an und mit dem Virus. Damals war uns das nur eine Randnotiz wert. Werden wir bei der nächsten Grippewelle erneut den Kampf um jedes einzelne Menschenleben aufnehmen und das öffentliche Leben lahmlegen? Und werden die Medien dann wieder täglich von der Opfer-Olympiade aller Länder berichten? Oder wird das Coronavirus für immer jene Heimsuchung bleiben, der wir für einen kurzen entgrenzten Moment buchstäblich die Krone aufgesetzt haben? (Album, Dietmar Krug, 6.9.2020)