Polizei und Demonstranten in angespannter Lage vor dem Berliner Reichstagsgebäude.

Foto: EPA / Clemens Bilan

Berlin– Eine große Gruppe aggressiver Demonstrierender gegen die Corona-Politik der deutschen Bundesregierung hat am Samstagabend Absperrgitter am Reichstagsgebäude in Berlin überwunden. Teilnehmer sind die Treppe zum verglasten Besuchereingang hochgestürmt. Dabei waren auch von sogenannten "Reichsbürgern" verwendete schwarz-weiß-roten Reichsflaggen zu sehen. Anfangs standen nur drei Polizisten der grölenden Menge entgegen.

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Videos, die im Internet kursieren, zeigen, wie weit mehr als hundert jubelnder Menschen minutenlang auf und oberhalb der großen Treppe direkt vor der Tür des Reichstags stehen. Neben der Reichsfahne sind auch deutsche, amerikanische und russische Fahnen sowie Transparente zu sehen. Polizisten versuchen, die Menge mit dem Schwenken von Schlagstöcken auf Abstand zu halten. Im Hintergrund ruft ein Mann: "Wir sind friedlich, wir sind friedlich." Ein anderer Mann schreit ständig: "Wahnsinn, Wahnsinn." Nach einer Weile kam Verstärkung, und die Polizei drängte die Menschen auch mit Hilfe von Pfefferspray zurück. Zuvor hatten nach Schätzungen der Polizei knapp 40.000 Menschen aus ganz Deutschland weitgehend friedlich gegen die Corona-Politik demonstriert.

Bilder der Demo am Samstag.
DER STANDARD

Demo scharf verurteilt

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Politiker fast aller Parteien verurteilen das Vordringen von Demonstranten auf die Treppe des Reichstagsgebäudes scharf. "Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen", so Steinmeier. Er dankte den Polizisten, "die in schwieriger Lage äußerst besonnen gehandelt haben". Er betonte zugleich, dass sich alle, die sich über die Corona-Maßnahmen ärgern oder ihre Notwendigkeit anzweifeln, öffentlich äußern könnten, aber: "Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen."

Justizministerin Christine Lambrecht fordert eine harte Antwort des Staates. "Gegen diese Feinde unserer Demokratie müssen wir uns mit aller Konsequenz zur Wehr setzen", so die SPD-Politikerin zu Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Angriffe auf Polizisten

Bei den Kundgebungen von Samstag kam es vor allem vor der russischen Botschaft nahe dem Brandenburger Tor zu Angriffen von Reichsbürgern und Rechtsextremisten auf Polizisten. Aus einer Menge von 3.000 Menschen wurden Steine und Flaschen geworfen. Mittlerweile hat sich auch der Initiator der großen Demonstration, Michael Ballweg von der Stuttgarter Initiative "Querdenken", von Randalierern distanziert: "Die haben mit unserer Bewegung nichts zu tun."

Der Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz versuchte noch am Abend eine Erklärung zu den Szenen vor dem Reichstagsgebäude: "Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteigen, zu durchbrechen, um dann auf die Treppe vor dem Reichstag zu kommen." Eine umfassende Bilanz der Polizei zu der Demonstration am Samstag sollte im Lauf des Sonntags veröffentlicht werden.

Verschwörungsideologe Attila Hildmann festgenommen

Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte am Samstagabend berichtet, über den Tag verteilt seien rund 300 Menschen festgenommen worden, allein bei den Angriffen vor der russischen Botschaft etwa 200. Geisel bezeichnete die Ereignisse als vorhersehbar. "Es war erwartbar, was heute passiert ist", sagte er am Samstagabend in den ARD-"Tagesthemen". Die Polizei war mit rund 3.000 Beamten aus verschiedenen Bundesländern und von der Bundespolizei im Einsatz. Festgenommen wurde vor der russischen Botschaft auch der Vegan-Kochbuchautor Attila Hildmann, der sich selbst "ultrarechts" und einen Verschwörungsprediger nennt.

Nachdem die Polizei die Demonstrationen ursprünglich verboten hatte, gaben erst Gerichte die Erlaubnis. Den ersten Demonstrationszug ließ die Polizei Samstagmittag nicht starten, weil die Mindestabstände zum Infektionsschutz nicht eingehalten wurden. Nachmittags konnten aber Zehntausende Menschen auf der Straße des 17. Juni im Tiergarten demonstrieren. Zu sehen war eine breite Mischung von Bürgern, darunter Junge und Alte sowie auch Familien mit Kindern. Auf Transparenten forderten sie den Rücktritt der Bundesregierung sowie ein Ende der Schutzauflagen und Alltagsbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie. Immer wieder skandierte die Menge "Widerstand" und "Wir sind das Volk". (red, APA, 30.8.2020)