Ach hätte ihre Mutter sie doch als "Tintenfisch" auf die Welt gebracht, ihre Tinte flösse direkt in ihre Gedichte, fantasiert Friederike Mayröcker. Sie ist aber auch so sicherlich die gewissenhafteste aller Autoren. Wenn man sie fragte, wo sie am x.x.xxxx war, kann sie eines ihrer über 80 Bücher aus den Wänden ihrer Schreibhöhle in der Wiener Zentagasse ziehen und das Tagwerk selbigen Datums vorweisen.
Das kann sie ebenso mit ihrem neuesten und, wie sie sagt, auch letzten Buch so handhaben. Einmal mehr schiebt die inzwischen 95-Jährige in da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete Wortfetzchen zu flirrenden Satzgirlanden und die Seiten hinabstürzenden Gedankenkaskaden ineinander. "Proem" nennt sie diese tosende "Prosa mit einem lyrischen Touch". Nur scheinbar schafft der Druck im Blocksatz Ordnung.
Die Texte erstrecken sich von September 2017 bis November 2019. Große Weltereignisse hat man bei Mayröcker aber stets vergebens gesucht. Immerhin, dass das Café Griensteidl geschlossen wurde und nun Klimt heiße, beschäftigt sie im März 2018. Öfter bilden Arztbesuche ("auf den Stufen zum Kardiologen") Glutkerne des verbalen Rausches. Die Au torin beschäftigt der körperliche Verfall. Ein Krankenhausaufenthalt führt etwa zur Zeile "ich Debütantin des Todes, steinig mein letzter Weg". Heiter berichtet sie dagegen von ihrer Augenärztin Dr. Freude. Die verließ die Patientin einst beschwingt "mit den Worten Freude schöner Götterfunken was sie mir ETWA übelnahm".
"KATZENGOLD" des Privaten
Es ist wieder einmal das ganz Private, das Mayröcker auch nach über 70 Jahren des Dichtens noch an der Schreibmaschine erregt. Sie ist eingesponnen in einen Kosmos aus Kunst, Musik ("ach das Hören und Riechen einer Beethovensonate raubt mir die Sinne"), Erinnerungen an ihre Eltern, die Kindheitssommer in Deinzendorf und Ernst Jandl, schaut in "Aquarelle v. Wolken", wechselt Briefe mit Kollegen. Im Stiegenhaus prangt ein Kuss, und im Supermarkt weckt eine Topfpalme ihr zartes Interesse. Mal um neun und mal um zehn Uhr morgens bringt "der Essensträger" der am Küchentisch "lümmelnden" Dichterin seine Fracht. Die Tränen "über meine Backe : enorme Backe, eines roten Apfels", hantelt sich der Text voran, sind da oft noch nass.
Die Punkte und Beistriche sitzen an den abenteuerlichsten Stellen. Viele Motive sind schon bekannt, aber noch fragmentarischer geworden, durcheinandergewirbelter. Narration kommt nie auf, und die will die Dichterin auch nicht, Inhalt schimpft sie geradezu beschwert: "Schlepptau".
"KATZENGOLD" wiederum nennt Mayröcker die Bilder und Worte, die sie nach oft unruhigem Schlaf als kompensatorische Gabe der Nacht morgens erhascht. Sie sind mehr wert als das. Mayröckers wohl größte Tugend ist: Sie lenkt Aufmerksamkeit weg von dem, das sie sonst anzieht. Sie verschiebt einem die Wahrnehmung.
Blumen beim Boxen
Wie prächtig klingt etwa das hingeseufzte "ach diese grüne, Schärpe v. Frühling" für eine frische Wiese! Wie gewitzt ist die Beobachtung von einer Pflanze in einem Schaufenster, diese "boxe gegen das Fensterglas nämlich wolle ins Freie". Als sie Anfang 2018 "das neue Modewort ‚nature writing‘" besonders skeptisch beäugt, ist allen Beteiligten klar: Als täte sie das nicht schon lange und noch immer! Wie ein Glücksgefühl ein "ärmelloses" sein kann, müsste sie einem aber erklären.
So verworren Mayröckers Sprache ist ("ein Rebus"), so gerecht ist sie andererseits. Jedes Wort ist für die Dichterin poesietauglich, und so lässt sie auch manchmal profanste Begriffe neben ihren heiligen stehen, etwa wenn sie festhält: "ja ich bin vielleicht ein muffin und lasse mich verzehren (v. deinem Aug)". Ein herrlicher Clash auch die lapidare Feststellung: "er blühete mir die Bude voll". Ab und zu entkommt ihr ein "wow". Wie jung, ja mädchenhaft eine Grande Dame klingen kann!
Gefragt, worum es in ihrem neuen Buch gehe, antwortet sie in einem Text "es geht um NICHTS und es geht um ALLES", um Empfindungen und Materie, "Verliebtheiten, Vergeblichkeiten, Phantasien". Man sollte sich den Wellen der oft auch rauen Poesie vertrauensvoll hingeben. Denn "man betört uns und verführt uns, wenn wir lesen", hat Mayröcker recht. (Michael Wurmitzer, 21.7.2020)