Ulrike Kaufmann ist Gynäkologin an der Abteilung für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin am Wiener AKH. Sie behandelt und begleitet Menschen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht nicht identifizierten können. Im Rahmen von Santé femme ist sie auch als Wahlärztin tätig.
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Lucia Heredia (24) verpasste am Wochenende im spanischen Vorentscheid den Einzug ins Finale der Wahl zur Miss World. Bei einem Sieg wäre sie das zweite Transgender-Model in der Geschichte des Wettbewerbs gewesen.
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STANDARD: In Österreich kommen seit einigen Jahren immer mehr Menschen in Facharztpraxen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht nicht wohlfühlen und es angleichen möchten. Woran liegt das?

Kaufmann: Das ist ein internationaler Trend. Durch die Medien, insbesondere das Internet, sind viel mehr Informationen über Transgender verfügbar, und die Hemmschwelle, sich zu outen, ist gesunken. Begriffe wie "gender queer", "gender fluid", "nonbinär" oder "pansexuell" sind seit einigen Jahren Teil des öffentlichen Diskurses. Menschen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht oder dem dazugehörigen gesellschaftlichen Rollenbild nicht identifizieren können, trauen sich nun öfter, das zu benennen.

STANDARD: Der Anstieg ist also eine positive Entwicklung?

Kaufmann: Unsere Gesellschaft beruht nach wie vor auf der dichotomen Struktur von Mann und Frau, biologisch wie auch im sozialen Kontext. Da ist es mit der Toleranz und Akzeptanz von "Abweichungen" zwar nach wie vor oft schwierig, die Grenzen zwischen den Geschlechtern weichen jedoch immer mehr auf.

STANDARD: Kann der Behandlungsanstieg auch damit zusammenhängen, dass transgender oder nonbinär zu sein in einigen Szenen mittlerweile cool ist und junge Menschen, die sich mit sich und ihrem Körper nicht wohlfühlen, hier eine Möglichkeit sehen, dazuzugehören?

Kaufmann: Das ist durchaus möglich. Das Erwachsenwerden ist mit diversen Herausforderungen verbunden: Dazugehören, Ausbildung, Berufswahl, erste Liebe, erster Liebeskummer oder das Loslösen von den Eltern. Kommen jetzt noch Probleme mit dem eigenen Körper oder der sexuellen Orientierung dazu, macht es das Ganze nicht einfacher. Eine nonbinäre Lebensweise beinhaltet allerdings nicht unbedingt körperliche Veränderungen. Und dem Einnehmen gegengeschlechtlicher Hormone oder einem operativen Eingriff unterzieht sich niemand, nur weil es cool ist.

STANDARD: An wen wenden sich Menschen, die sich mit ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen?

Kaufmann: Das ist länderspezifisch unterschiedlich. Oft sind Hausärztinnen und Hausärzte die erste Anlaufstelle. Sie sollten heutzutage eigentlich mit der Thematik so weit vertraut sein und dann an spezifische Zentren oder Beratungsstellen verweisen. Leider ist auch das Gesundheitspersonal noch lange nicht ausreichend geschult. Um körperliche Veränderungen mittels Hormonen und Operationen einzuleiten, bedarf es – auch damit die Sozialversicherung diese Kosten übernimmt – einer Diagnosestellung. Hierfür sind Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Psychologinnen und Psychologen sowie Psychiaterinnen und Psychiater zuständig.

STANDARD: Ist die Geschlechtsangleichung heute gut machbar?

Kaufmann: Die Transition von Frau zu Mann ist mittels Testosteron sehr erfolgreich. Es kommt zum Stimmbruch, und auch die weitere Vermännlichung ist beeindruckend. Die operative Geschlechtsangleichung einer Phalloplastik ist jedoch nach wie vor eine große Herausforderung. Eine Alternative sind Epithesen.

STANDARD: Das sind professionell hergestellte Körperersatzteile?

Kaufmann: Richtig. Mit ihnen sehen Penis und Hoden täuschend echt aus. Die Transition vom Mann zur Frau stellt bezüglich hormonell bewirkter Veränderungen die weitaus größere Herausforderung dar. Die operative Geschlechtsangleichung ist heute allerdings gut machbar. Durch immer bessere Techniken ist die Bildung einer sogenannten Neovagina sehr erfolgreich: Geschlechtsverkehr ist meist problemlos möglich; auch die Orgasmusfähigkeit bleibt erhalten.

STANDARD: Sind die Menschen, die sich einer operativen Behandlung unterziehen, im neuen, gewünschten Geschlecht zufrieden?

Kaufmann: Es gibt Studien, die zeigen, dass sich die Lebensqualität durch gegengeschlechtliche Hormone und eventuell auch operative Angleichungen meist deutlich steigt. Sogenannte Reue-Patientinnen und -Patienten gibt es, sie sind aber selten. Der Grund dafür ist meist soziales Mobbing.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Kaufmann: Wenn ein als Mann geborener Mensch sich als weiblich identifiziert und sich im Erwachsenenalter zu einer Hormontherapie entschließt, sind gewisse männliche Attribute wie Stimmbruch oder Bartwuchs bereits vorhanden. Durch gegengeschlechtliche Hormone oder operativ geschlechtsangleichende Maßnahmen sind diese schwer bis gar nicht "korrigierbar" – etwa Körpergröße und Körperbau. Das Gegenüber wird unter Umständen also immer erkennen, dass die Person nicht als Frau geboren ist. Auch wenn unsere Gesellschaft mittlerweile offener geworden ist und Terminologien wie das dritte Geschlecht etwa in Deutschland offiziell anerkannt sind, ist das Leben für viele Transgender-Personen nach wie vor schwierig.

STANDARD: In Sachen Toleranz und Gleichberechtigung ist also noch Luft nach oben.

Kaufmann: Ja – und wie. In einer emanzipierten Welt sollte sich doch auch ein Mann schminken dürfen, wenn ihm das gefällt. Abweichungen vom normativen Geschlecht Mann oder Frau stoßen leider noch immer auf Unverständnis und Kritik. Solange sich noch irgendwer "outen" muss, gibt es noch einiges zu tun. (Stella Hombach 28.7.2020)