Einkaufen muss jeder und jede. Deshalb sind Supermärkte auch ein guter Ort für Hilfsangebote.

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Sophie Lavaley schüttelt den Kopf. "Nein, Sie dürfen das Wohnungsschloss nicht auswechseln", informiert sie am Handy eine Gesprächspartnerin, die wissen will, wie sie sich vor den Schlägen ihres Mannes schützen könnte. "Auch wenn er schon zweimal wegen Gewalt gegen Sie und Ihre Tochter verurteilt worden ist, können Sie ihn nicht einfach aussperren", sagt die Eheberaterin im Pariser Vorort Villejuif, beim Telefonieren ziellos auf- und abgehend.

Man einigt sich, in Kontakt zu bleiben und die Polizei auf dem Laufenden zu halten. Lavaley verabschiedet sich und seufzt. Ein Ehedrama mehr. Seit dem Beginn der Ausgangssperre, die hier im massiv betroffenen Vorstadtdepartement Val-de-Marne streng bleibt, mehren sich die Anrufe bei den Notnummern für Gewaltopfer. Das Innenministerium geht landesweit von einer Zunahme um 36 Prozent aus. Sophie Lavaley stellt in Villejuif eine "sicher noch stärkere Zunahme der Anrufe" fest. "Und das zeugt von einer starken Zunahme verschärfter, unbeherrschter Gewalt", fügt sie an.

Weniger Anzeigen

Auch bleibt die Gewalt verdeckt, in den eigenen vier Wänden eingeschlossen. Bei den Behörden rufen heute vermehrt auch Nachbarn an. Die Anzeigen bei der Polizei sind hingegen paradoxerweise leicht zurückgegangen. "Zu Hause werden die Opfer von ihren meist arbeitslosen Männern noch stärker kontrolliert, können sie dem Gefangensein noch weniger entgehen oder Hilfe suchen", erklärt Lavaley.

Nur zum Einkaufen dürfen sie noch vor die Tür. Eine kleine Freiheit, die genützt wird. Die Supermarktkette Casino druckt die Notrufnummer 3919 für Opfer familiärer Gewalt auf die Kassenzettel, die Konkurrentin Leclerc auf Gefrierpizzas. Die Initiative geht von Frauenministerin Marlène Schiappa aus. Der Einzelhändler Carrefour stellt Frauenverbänden sogar Empfangsbüros für malträtierte Frauen zur Verfügung.

Warteschlangen als Alibi

Diese Operation wird in den Medien nicht an die große Glocke gehängt, um überwachende Ehemänner nicht aufmerksam zu machen. Vor dem Carrefour-Eingang in Villejuif lädt ein Plakat immerhin zur "Mobilisierung gegen die Gewalt in der Familie". Ein Pfeil verweist auf eine Tür gleich neben der Warteschlange. Wegen der Anti-Corona-Maßnahmen muss man sich an diesem Nachmittag gut eine Stunde anstellen. "Das gibt den Frauen ein Alibi", sagt Lavaley lächelnd in dem schlichten, nun gesicherten Büro des Einkaufszentrums Villejuif-7.

Dann erzählt sie vom jüngsten Besuch, einem "alltäglichen Fall". Die 38-Jährige werde von ihrem Gatten regelmäßig geschlagen und vor ihren drei Kindern erniedrigt. Geld bekomme sie nur zum Einkaufen, arbeiten dürfe sie nicht. Mitten im Lockdown sei sie wieder einmal vor die Tür gesetzt worden. Zum Glück sei sie bei der Schwester untergekommen.

Hier in einem Hinterbüro des Supermarktes konnte diese Frau zum ersten Mal über ihre Lage sprechen und sich ausweinen. "Wenn sie ihr Mann zurückruft, werden wir versuchen sie weiter zu betreuen", ergänzt Anouk Martin, Frauenrechtsdelegierte des Departements Val-de-Marne.

Langsame Justiz

Xelia Bouba, eine Juristin, bereitet rechtlichen, sozialen und psychologischen Beistand vor. Soweit das überhaupt möglich ist: Die Justiz arbeitet derzeit langsamer. Umso wichtiger ist der Empfang im Einkaufszentrum Villejuif-7, das für Notfälle sogar einen Wäsche- und Hygienebeutel zusammengestellt hat.

Die drei Beraterinnen müssen auch an diesem Nachmittag improvisieren. Einen äußerst gespannten und gewalttätigen Scheidungsfall haben sie entschärft, indem sie zwei informelle Vermittler aufgeboten haben: Eine Nachbarin und ein Großvater organisieren trotz der Corona-Behinderung Besuchszeiten für das vierjährige Einzelkind.

Der Streitfall aus einem gehobenen Milieu zeigt laut Anouk Martin, dass Gewalt in der Ehe längst nicht nur auf einfache Bevölkerungsschichten beschränkt ist. "In den besseren Kreisen ist das Tabu noch stärker, das ist alles. Finanziell ist die Frau oft ebenso abhängig."

Gewalt ist vererblich

Auch Alkohol, ein häufiger Katalysator für Ehegewalt, komme in allen Schichten vor, weiß die langjährige Frauenrechtsexpertin. In der Arbeiter- und Immigrantenvorstadt Villejuif kommen dazu soziale Kriterien, wie der Fall einer anderen Besucherin zeigt: Diese alleinerziehende Mutter wird heute von ihren 14- und 15-jährigen Söhnen geschlagen, nachdem ihr drogensüchtiger Mann verschwunden ist. Ohne Schulunterricht schliefen die beiden sozial "auffälligen" Sprösslinge meist bis am frühen Nachmittag, erzählt Martin; nachts ließen sie ihre Aggressivität an der Mutter aus. "Wenn ein Kind sieht, wie der Vater die Mutter misshandelt, besteht eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit, dass sie es ihm später nachmachen."

Derzeit genügt oft eine Nichtigkeit, um die wochenlang eingegrenzte Spannung und Langeweile in nackte Gewalt umschlagen zu lassen. Die Opfer sind meist Frauen, die noch als Einzige versuchen, ein halbwegs normales Leben aufrechtzuerhalten. Aber in der Wohngegend um das Einkaufszentrum Villejuif-7 ist Normalität derzeit ein relativer Begriff. (Stefan Brändle aus Villejuif, 14.5.2020)