Teils müssen Covid-19-Patienten per TGV-Zug vom Elsass in andere Regionen Frankreichs verlegt werden.

Foto: SEBASTIEN BOZON / AFP

Das Elsass im Osten Frankreichs ist eine der am stärksten von dem neuartigen Coronavirus betroffenen Regionen Europas. Eine Allgemeinärztin – sie möchte anonym bleiben –berichtet dem STANDARD von ihrer kräftezehrenden und psychisch höchst belastenden Arbeit.

STANDARD: Sie sind Ärztin in einem Krankenhaus in der Gegend zwischen Straßburg und Mulhouse. Wie erleben Sie den Ansturm der Patienten?

N.N.*: Wir haben fast alle Stationen in unserem Krankenhaus zu reinen Covid-19-Abteilungen umfunktioniert. Trotzdem können wir die Masse an Patienten kaum bewältigen. Gestern war unsere Notaufnahme wieder völlig überfüllt, übrigens nicht nur wegen lebensbedrohlicher Erkrankungen. Ich kann die Menschen nur davor warnen, wegen Kleinigkeiten in die Notaufnahme zu gehen. Krankenhäuser gehören zu den Orten, wo die Ansteckungsgefahr am höchsten ist. Auch wir haben uns infiziert.

STANDARD: Sie selbst haben sich bereits mit Covid-19 angesteckt?

N.N: Ja, nicht nur ich. Die überwiegende Mehrheit des Personals in unserem Haus hat sich infiziert. In meinem Team sind alle Ärzte bis auf einen positiv getestet worden. Mehrere davon sind schwer erkrankt. Eine Kollegin musste intubiert werden und liegt derzeit im Koma.

STANDARD: Wie ist das passiert? Lag das an fehlenden Schutzmasken?

N.N.: Ich habe mich in der ersten Märzwoche bei einem älteren Patienten angesteckt, der an uns überwiesen worden ist. Das Problem war, dass uns zuvor glaubhaft versichert wurde, dass es keinen Grund gebe, bei diesem Patienten eine Infektion mit Covid-19 zu vermuten. Diese Einschätzung war leider falsch. Die Person hat mich, mehrere Kollegen und auch einen weiteren Patienten infiziert. Das hat eine Kettenreaktion ausgelöst. Es ist unglaublich, wie ansteckend das Virus ist. Genug Schutzmasken hatten wir zu diesem Zeitpunkt auch nicht, sondern nur die einfachen Chirurgiemasken. Mittlerweile haben wir gerade einmal genug FFP2-Masken, auch die Reinigungskräfte, denen man diesen Schutz zunächst verwehrt hat, haben nun welche bekommen. Aber jetzt sind wir ohnehin alle infiziert.

STANDARD: Wie schaffen Sie es, dennoch zu arbeiten?

N.N.: Ich fühle mich extrem erschöpft. Aber wenn meine Kollegen und ich nicht zur Arbeit gehen, kümmert sich niemand mehr um die Patienten. In anderen Regionen in Frankreich dürfen Ärzte, die Symptome haben und positiv getestet werden, eine Woche zu Hause bleiben. Wenn wir das im Elsass machen würden, gäbe es kein medizinisches Personal mehr.

STANDARD: Wie gehen Sie jetzt mit der Krankheit um?

N.N.: Ich habe Angst, andere im Alltag zu infizieren. Kürzlich hat mich beim Einkaufen eine Verkäuferin unabsichtlich an der Hand berührt. Ich musste ihr die Situation erklären und sie bitten, sich ihre Hand umgehend zu desinfizieren. Auch machen wir uns natürlich Sorgen um uns selbst. Bislang kennen wir diese Krankheit zu wenig. Ich musste miterleben, wie sich der Gesundheitszustand von eigentlich stabilen Patienten innerhalb kürzester Zeit massiv verschlechtert hat. Wir wissen auch nicht, ob wir nicht langfristig Lungenschäden davontragen werden. Was wir auf den CT-Scans sehen, sieht schrecklich aus. Bei einigen Patienten zerstört Covid-19 die Lunge.

STANDARD: Wie behandeln Sie die Patienten, die zu Ihnen kommen?

N.N.: Wir versuchen in erster Linie die Atembeschwerden mit der Gabe von Sauerstoff zu lindern. Auch versuchen wir, das Fieber zu senken und weitere Symptome zu behandeln, zum Beispiel Übelkeit und Durchfall, worunter die Kranken häufig leiden. In den Medien ist meist nur von Husten und Fieber die Rede. Patienten, die wir intubieren müssen, versuchen wir, so schnell es geht, an etwas größere Häuser zu überweisen, die aber ebenfalls völlig überlastet sind. Unsere Intensivkapazitäten sind zu gering.

STANDARD: Geben Sie auch Chloroquin, von dem derzeit viel die Rede ist?

N.N.: Ja, aber das ist ein Medikament mit teils starken Nebenwirkungen. Es kann unter anderem Herzrhythmusstörungen auslösen. Wir müssen die Patienten, denen wir das verabreichen, also ganz genau auswählen. Leider können wir bislang noch nicht sagen, ob es wirklich einen Nutzen hat.

STANDARD: Diese Woche berichtete das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin (DIFKM), das Ihre Kollegen in Straßburg besucht hat, dass dort die Triage eingeführt worden sei, also das Selektieren von Patienten. Können Sie das bestätigen?

N.N.: Es ist sehr traurig, was ich Ihnen jetzt sagen werde: In der Covid-19-Abteilung, in der ich arbeite, gibt es sehr viele ältere Menschen mit Vorerkrankungen, die wir nicht mehr intubieren. Einerseits, weil sie ohnehin schlechte Überlebenschancen haben, aber auch, weil wir nicht genug Intensivbetten haben. Vielfach machen wir nur noch Sterbebegleitung.

STANDARD: Wie entscheiden Sie, welche Patienten noch intubiert werden und welche nicht?

N.N.: Das entscheiden wir immer im Team. Wir schauen uns das Alter des Patienten an, die Vorerkrankungen. Wir sprechen auch mit den Familien und versuchen, sie psychologisch vorzubereiten. Wenn wir zwischen einem 90-Jährigen mit kardiovaskulären Problemen und einem ansonsten gesunden 30-Jährigen auswählen müssen, dann ist die Wahl klar.

STANDARD: In dem Bericht des DIFKM stand, dass Personen über 80 in Straßburg nicht mehr intubiert würden.

N.N.: Hier war die Altersgrenze vor kurzem auch 80 Jahre. Mittlerweile intubieren wir aber niemanden mehr ab 75. Letztlich zählt aber das biologische Alter. Heute habe ich versucht, einen Platz auf einer Intensivstation für einen 72-jährigen Patienten mit diversen Vorerkrankungen zu finden – leider vergeblich. Ich befürchte, dass er die Nacht nicht überleben wird. Das mag sich brutal anhören, aber wir können das aktuell nicht anders handhaben. Die Folge wäre, dass Patienten mit schlechten Überlebensaussichten für lange Zeit Betten belegen würden. Das wiederum würde die eigentlich guten Überlebenschancen jüngerer Patienten reduzieren. Leider müssen wir hier wirklich eine Medizin wie im Krieg praktizieren.

STANDARD: Wie kümmern Sie sich um diese Patienten, für die Sie keine Plätze mehr auf den Intensivstationen finden?

N.N.: Wir versuchen, sie so würdig es geht zu begleiten. Das Letzte, was wir für sie tun können, ist, ihnen Medikamente gegen Schmerzen zu geben.

STANDARD: Wie viele Ihrer Covid-19-Patienten sind bereits verstorben?

N.N.: Mehrere Dutzend – allein gestern, bei meiner letzten Schicht, sind drei Menschen gestorben. Davor bei meiner Kollegin ebenfalls drei.

STANDARD: Der französische Präsident Emmanuel Macron hat diese Woche ein schon länger angekündigtes Feldlazarett in Mulhouse eingeweiht. Zudem werden Patienten per Hubschrauber und TGV in weniger überlastete Kliniken verlegt, teilweise auch nach Deutschland, in die Schweiz und Luxemburg. Hat das die Situation verbessert?

N.N.: Ich bin froh um die Unterstützung, aber die Lage ist weiterhin kritisch. Das Feldlazarett bringt zwar 30 zusätzliche Betten. Das sind aber keine vollwertigen Intensivbetten, sondern nur für Kranke, die meist kurz davor sind, auf Intensivstationen verlegt zu werden oder die gerade aus Intensivstationen entlassen worden sind. Auch können wir wohl nicht mehr lange Patienten in alle Ecken Frankreichs verlegen. Über kurz oder lang werden auch in anderen Regionen die Stationen überlastet sein.

STANDARD: Wie bewerten Sie das Krisenmanagement der französischen Regierung? Einige Ihrer Kollegen, zum Beispiel die Ärztevertretung Collectif C-19, haben bereits Klage gegen den Premierminister Édouard Philippe und die ehemalige Gesundheitsministerin Agnès Buzyn eingereicht. Das Kollektiv wirft der Regierung vor, viel zu spät auf die Pandemie reagiert zu haben.

N.N.: Ich denke auch, dass die Bedrohung lange verharmlost wurde. Die Ausgangssperre wurde viel zu spät beschlossen. Es sind aber vor allem zwei Dinge, die mich fassungslos machen: Frankreich hat am 15. März, einen Tag vor der Ausgangssperre, noch Kommunalwahlen abgehalten. Das Problem war, dass es zu diesem Zeitpunkt kaum Atemschutzmasken gab. Viele dieser Masken wurden an die Wahlhelfer und Wähler verteilt, obwohl wir sie in den Krankenhäusern viel dringender gebraucht hätten. Der zweite Punkt betrifft die Ärzte im Ruhestand, die uns jetzt unterstützen sollen. Viele sind zwar hochmotiviert. Sie finden sich im modernen Klinikalltag aber nur schwer zurecht und können Patienten selten eigenständig behandeln. Und wenn sie eingearbeitet sind, gehen sie häufig auch schon wieder. Außerdem gehören sie altersmäßig zur Risikogruppe. Einer dieser Kollegen bei uns hat vor einigen Tagen leider ebenfalls Covid-19-Symptome entwickelt.

STANDARD: Welche Maßnahmen sollte die französische Regierung Ihrer Meinung nach jetzt ergreifen?

N.N.: Das Einzige, was uns wirklich helfen würde, wären mehr Ressourcen vor Ort: mehr Personal, Betten und Beatmungsgeräte. Auch schnellere Tests würden helfen. Wichtig ist aber vor allem, wie jetzt die Bevölkerung reagiert. Ich kann nur noch einmal betonen, wie wichtig es ist, sich an die Ausgangssperren zu halten. (Julian Bernstein, 29.3.2020)