Fragen der Unendlichkeit gehören zu den zentralen Forschungsgebieten der Mathematik.

In der Mathematik stößt man praktisch an jeder Ecke an die Unendlichkeit: Es gibt unendlich viele Zahlen, aber auch unendlich viele gerade Zahlen oder Primzahlen. Die Kreiszahl Pi wiederum hat unendlich viele Kommastellen. Und auch alle Zahlensorten zusammen sind unendlich.

Sind diese Unendlichkeiten alle gleich, weil nichts mehr sein kann als unendlich? Oder gibt es doch Abstufungen der Unendlichkeit?

Tatsächlich gibt es verschiedene Arten von Unendlichkeit – manche Unendlichkeiten sind sogar unendlich viel größer als andere. Zu untersuchen, welche Arten von Unendlichkeit es geben kann und wie sie miteinander zusammenhängen, ist eines der zentralen Forschungsgebiete von Logik und Mengenlehre.

Zehn unterschiedlich definierte Unendlichkeiten

Ein wenig Struktur in die Hierarchie der Unendlichkeiten bringt Cichońs Diagramm, das der britische Mathematiker David Fremlin erstellte und das er nach seinem polnischen Kollegen Jacek Cichoń benannte. Einfach formuliert beinhaltet es zehn unterschiedlich definierte Unendlichkeiten und gibt an, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Bisher war aber unklar, wie viele unterschiedliche Unendlichkeiten es in Cichońs Diagramm geben kann.

Nun gelang den Mathematikern Martin Goldstern und Jakob Kellner von der TU Wien gemeinsam mit ihrem Kollegen Saharon Shelah von der Universität Jerusalem ein wichtiger Beweis: Alle Unendlichkeiten in diesem Diagramm können unterschiedlich unendlich sein. Die Vielfalt dieser Unendlichkeiten ist maximal groß. Diese Erkenntnis wurde nun in der aktuellen Nummer der "Annals of Mathematics" publiziert, eines der bedeutendsten Mathematik-Fachjournale der Welt.

Wie man Unendlichkeiten zählt

Was ist größer – die Menge der natürlichen Zahlen oder die Menge der positiven geraden Zahlen? Nur jede zweite natürliche Zahl ist eine ganze Zahl, man könnte also glauben, dass die Menge der geraden Zahlen kleiner sein muss – doch die Mengentheorie sieht das nicht so. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man genauer betrachtet, wie man Unendlichkeiten überhaupt zählt.

Dazu nutzen Mathematiker nämlich einen Trick: Möchte man die Größe zweier Mengen vergleichen, beispielsweise die Menge aller Hühner und aller Hühnereier, dann ordnet man jedem Huhn ein Ei zu. Bleiben am Ende einige Elemente einer Menge ungepaart, dann ist diese größer als die andere. Findet man dagegen für jedes Huhn genau ein Ei, dann sind beide Mengen gleich groß.

Im konkreten Zahlenbeispiel würde man der geraden Zahl Nummer eins die Zwei zuordnen, der geraden Zahl Nummer zwei die Vier, und so weiter. Jede Zahl bekommt ihren eindeutigen Partner aus der anderen Menge, daher sind beide gleich groß.

"Überabzählbar unendlich"

Wie ist das aber mit der Menge der reellen Zahlen auf dem Zahlenstrahl mit unendlich vielen Nachkommastellen? Es gibt keine Möglichkeit, sie durchzunummerieren. Die Unendlichkeit aller Zahlen ist noch einmal größer als die Unendlichkeit der ganzen Zahlen. Man sagt, es sind "überabzählbar unendlich" viele.

Die Frage ist nun: Gibt es irgendetwas dazwischen? Gibt es eine Menge, die mehr Elemente hat als die Menge der natürlichen Zahlen, aber weniger als die Menge der reellen Zahlen? Der große Mathematiker Georg Cantor glaubte das nicht und formulierte 1878 die Kontinuumshypothese: Wenn eine Menge größer ist als die der natürlichen Zahlen, dann muss sie zumindest gleich groß sein wie die Menge der reellen Zahlen. (Darüber hinaus lassen sich freilich noch Unendlichkeiten konstruieren, die noch viel größer sind.)

Eine Hierarchie der Unendlichkeiten

Viele Leute versuchten, die Kontinuumshypothese zu beweisen – allerdings mit wenig Erfolg: In den 1960er-Jahren wurde schließlich bewiesen, dass sich die Hypothese nicht beweisen lässt. "Doch unabhängig davon, ob die Kontinuumshypothese stimmt oder nicht, kann man etwas Struktur in die Hierarchie der Unendlichkeiten bringen", sagt Jakob Kellner, der gemeinsam mit Martin Goldstern am Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie der TU Wien forscht.

Man kann eine ganze Reihe von Unendlichkeiten definieren und ihre Beziehungen zueinander untersuchen. "Wenn man aus den möglichen Unendlichkeitsdefinitionen bestimmte Paare herausgreift und beweist, dass eine größer oder gleich der anderen sein muss, entsteht eine Hierarchie der Unendlichkeiten", sagt Martin Goldstern. Durch diese Beziehungen ergibt sich eine netzartige Struktur, die eben als Cichońs Diagramm bekannt ist. Insgesamt zehn unterschiedliche Definitionen unendlich großer Zahlen werden in diesem Diagramm in Relation gesetzt.

Überblick über Cichońs Diagramm

Doch bisher wurden immer nur einzelne Verbindungen in diesem Netz untersucht. Sich einen globalen Überblick über Cichońs Diagramm zu verschaffen ist viel schwieriger. Und so war lange Zeit unklar, wie viel Freiheit für unterschiedliche Unendlichkeiten das Diagramm tatsächlich zulässt: Wie viele von ihnen dürfen verschieden sein? Gibt es in diesem Diagramm vielleicht eine Menge von drei Einträgen, von denen zwei logisch zwingend gleich sein müssen?

"Wenn man annimmt, dass die Kontinuumshypothese stimmt, dann ist die Sache ganz einfach: Dann ist zwischen der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen und der Unendlichkeit der reellen Zahlen keine weitere Sorte von Unendlichkeit möglich, und alle Einträge im Diagramm sind gleich", sagt Jakob Kellner.

Wenn man die Gültigkeit der Kontinuumshypothese allerdings nicht voraussetzt, sieht die Sache völlig anders aus: Wie Goldstern, Kellner und Shelah zeigen konnten, sind tatsächlich zehn verschiedene Einträge möglich. Cichońs Diagramm erlaubt hier die größte Vielfalt an Unendlichkeiten, die überhaupt denkbar ist.

Zwar ist dieses lang diskutierte Rätsel um Cichońs Diagramm nun gelöst. Dennoch bleibt die Untersuchung und Charakterisierung von Unendlichkeiten weiterhin ein wichtiges Forschungsgebiet der Mathematik – eineinhalb Jahrhunderte nach Georg Cantor. Denn auch die Menge der mathematischen Rätsel rund um die Unendlichkeit dürfte unendlich groß sein. (red, 19.8.2019)