Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella nahm sich im Rahmen seines Staatsbesuchs in Österreich höchstpersönlich Zeit, um am Dienstag ein Forschungszentrum zu eröffnen – eine seltene Ehre, die dem neuen LEI-Zentrum in Wien zuteilwurde. Hinter dem Akronym LEI verbirgt sich eines der ambitioniertesten geisteswissenschaftlichen Projekte der Gegenwart: das Lessico Etimologico Italiano.

500 Millionen Datensätze soll das Wörterbuch in seiner Endversion umfassen. Seit Jahrzehnten arbeiten Wissenschafter daran, die Geschichte eines jeden Wortes zu erforschen – mit spannenden Erkenntnissen.
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Dieses noch im Entstehen begriffene Wörterbuch des Italienischen wird eines der weltweit umfangreichsten etymologisch-lexikografischen Werke sein. 17 großformatige Bände mit rund 20.000 Seiten sind bislang erschienen – und damit ist man erst beim Buchstaben E angekommen. "Geht man vom noch zu bearbeitenden Datenmaterial aus, sollten es insgesamt an die 60 Bände werden", meint Elton Prifti, seit Anfang 2019 Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Wien und Leiter des neuen Wiener LEI-Zentrums.

Migrationsbewegungen der Wörter

Das LEI wurde vom Schweizer Romanisten und Sprachwissenschafter Max Pfister nach dem Vorbild des 25-bändigen Französischen Etymologischen Wörterbuchs konzipiert, das 2002 – nach 80 Jahren – abgeschlossen werden konnte. Seit den 1970er-Jahren arbeiten zahlreiche renommierte Sprachwissenschafter am Lessico Etimologico Italiano, das neben der Schriftsprache auch die italienischen Dialekte berücksichtigt und die Sprachgeschichte jedes einzelnen Wortes auf Basis soziokultureller und sprachgeografischer Zusammenhänge erforscht.

So spiegeln sich beispielsweise in der italienischen Bezeichnung des Balkons – balcone – die engen historischen Beziehungen zwischen den germanischen und den romanischen Kulturräumen. "Der Germanismus Balken wird ins Italienische integriert, indem das Wort die Form balcone annimmt", erläutert der Wissenschafter. "Vom Italienischen gelangt es dann als balcon ins Französische und von dort wiederum als Balkon ins Deutsche."

Auch in umgekehrter Richtung werden im LEI die Migrationsbewegungen der Wörter aufs Genaueste dokumentiert: "Die Latinismen vinum und cellarium finden wir im Deutschen als Wein und Keller", erklärt Elton Prifti. Aus vinum hat sich im Italienischen die Form vino entwickelt. "Der Keller aber wird im Italienischen als cantina bezeichnet, und dieses Wort erreicht über einen französischen Umweg (cantine) als Kantine das Deutsche."

Sieben Millionen Zettel

Die genaue historische Dokumentation sowie die ausführlichen Erläuterungen zur Wortgeschichte machen das LEI zu einem Jahrhundertprojekt der europäischen Lexikografie. Bis vor wenigen Jahren wurde daran noch ausschließlich analog gearbeitet, da alle Digitalisierungsversuche zunächst am schieren Umfang der Daten und an der Struktur des Werkes gescheitert waren.

Unzählige Quellen wurden durchforstet, Millionen Karteikarten gesammelt.
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Tausende Wörterbücher und einschlägige Publikationen haben die Forscher manuell durchforstet, relevante Einträge ausgeschnitten und auf DIN-A6-Zettel geklebt. Über sieben Millionen dieser Karteikarten haben sie bisher gesammelt, und das Exzerpieren des Datenmaterials geht weiter. Einer von Elton Prifti koordinierten Arbeitsgruppe an der Universität Mannheim gelang es schließlich doch, die Zettel zu digitalisieren und entsprechend zu sichern.

Im Wiener LEI-Zentrum soll nun der schwierigste Schritt des komplexen Digitalisierungsprozesses gesetzt werden: die Entwicklung eines weitgehend automatisierten digitalen Redaktionssystems, an dem neben Linguisten auch etliche IT-Experten mitarbeiten. "Mithilfe spezieller Softwaretools werden die LEI-Redakteure wesentlich schneller arbeiten können als bisher", sagt Elton Prifti. Neben der Arbeit am neuen Redaktionssystem müssen zudem die bereits publizierten Teile des LEI digitalisiert und für die Unterbringung in einer Datenbank aufbereitet werden.

"Europäisches Kulturmonument"

Letztendlich soll eine Online-Version mit zahlreichen Suchfunktionen zur Verfügung stehen, aus der auch PDF-Versionen der Artikel automatisch generiert werden können. In seiner Endversion wird das digitale LEI geschätzte 500 Millionen Datensätze umfassen. Um den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern, wird die künftige Scuola LEI di Etimologia e di Lessicografia Storica auch im Wiener Zentrum einen ihrer Standorte haben. In dieser sehr speziellen "Schule" sollen neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter systematisch in die Methoden und Inhalte des LEI eingearbeitet werden.

Bis 2033 muss das Lessico Etimologico Italiano von A bis Z fertig sein, weil dann die Finanzierung durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, die das Vorhaben seit 1974 unterstützt, ausläuft. Das Riesenprojekt bis dahin zu einem Abschluss zu bringen wäre ohne Digitalisierung unrealistisch. "Es ist aber nicht nur die Digitalisierung, die uns schneller zum Ziel bringt", betont Elton Prifti. "Mindestens genauso wichtig ist die Verteilung des enormen Arbeitsaufwands auf mehrere Schultern."

Aus diesem Grund wurden neue Arbeitsstellen des LEI an der Universität Mannheim, der Università per Stranieri di Siena und eben auch jene an der Uni Wien gegründet. Diese Zentren erweitern die bestehende Infrastruktur des LEI, zu der Arbeitsgruppen an der Università del Salento, am Centro LeItaLie in Neapel und vor allem an der Universität des Saarlandes gehören, wo der Sprachwissenschafter Wolfgang Schweickard das LEI-Projekt als Nachfolger von Max Pfister viele Jahre lang geleitet hat.

Obwohl das Lessico Etimologico Italiano ein Wörterbuch des Italienischen ist, stellt es für Elton Prifti nicht weniger als ein "europäisches Kulturmonument" dar. "Immerhin werden dabei systematisch auch sämtliche Germanismen, Gallizismen, Gräzismen (Entlehnungen aus dem Altgriechischen) etc. des Italienischen und der Dialekte Italiens erforscht, die als sprachliche Zeugen der Kontakte mit anderen Kulturen fungieren." (Doris Griesser, 5.7.2019)