Je stärker etwas unterdrückt wird, umso stärker drängt es nach oben. Das steckt hinter dem Freud'schen Versprecher aus psychoanalytischer Sicht.

Foto: wikipedia/gemeinfrei

Sigmund Freud war der Vorfall eine Anekdote wert. Er berichtete in seiner "Psychopathologie des Alltagslebens" über eine Sitzung, die der Präsident des österreichischen Abgeordnetenhauses mit folgenden Worten eröffnete: "Hohes Haus! Ich konstatiere die Anwesenheit von so und so viel Herren und erkläre somit die Sitzung für geschlossen!"

Freuds Interpretation zufolge wünschte sich der Redner in diesem Fall, die Sitzung zu beenden, statt sie zu eröffnen. Das ist eines seiner bekannten Erklärungsmodelle für Versprecher, in denen das Unbewusste die Oberhand gewinnt und verdrängte Gedanken ans Licht kommen. "Das ist so, als ob man sich in einer Tür irrt", sagt der Salzburger Internist und Psychoanalytiker Bodo Kirchner.

Laut Psychoanalyse sind Versprecher, Fehlhandlungen und Fehlleistungen, wie sie Freud genannt hat, keine Zufälle. Es sei weder ein Kurzschluss im Gehirn noch ein sinnloses Fabulieren oder Stottern, sondern etwas, was mit den innerseelischen Vorgängen zu tun habe – mit unbewussten Wünschen, aggressiven oder sexuellen Fantasien und Ängsten, zum Beispiel.

Wünsche, die nach oben drängen

"Meist ist es so, dass der Mund das ausspricht, was das Gehirn zwar denkt, aber nicht denken darf oder nicht zu denken wagt", sagt Kirchner. – Wie die junge Frau, die an einem heißen Sommertag auf Facebook postete, ob ihr denn niemand mit einem Vibrator aushelfen könnte, ihr wäre so heiß. Die große Hitze, leichte Kleidung oder Nacktheit trugen wahrscheinlich zur sexuellen Spannung bei, die diese Freud'sche Fehlleistung hervorgerufen hatte, interpretiert der Psychoanalytiker den missglückten Versuch, nach einem Ventilator zu fragen.

Für ihn sei das ein Paradebeispiel für die hydraulische Theorie der Verdrängung: Je stärker etwas unterdrückt wird, umso stärker drängt es nach oben. Für Bodo Kirchner ergänzen sich hier Sprachwissenschaft und Psychoanalyse: "Der Sprachwissenschaftler kann uns erklären, was passiert, aber nicht, warum es passiert. Der Psychoanalytiker erklärt, warum es passiert, aber nicht, was passiert."

Weltweit gleiche Muster

Das sieht Dietmar Roehm, Psycholinguist an der Universität Salzburg, weniger großzügig. Seiner Meinung nach existiert das, was im Volksmund als Freud'scher Versprecher bezeichnet wird, lediglich in den Köpfen von Therapeuten. Aus der linguistischen Perspektive handelt es sich bei einem Versprecher lediglich um das Resultat von "Fehlaktivierungen" beim Sprachproduktionsprozess.

Darum glaubt er auch nicht daran, dass die Psychoanalyse Schlüsse aus einem Versprecher auf die Seele oder einen seelischen Zustand schließen kann. "Versprecher sind regelgeleitet und nicht zufällig oder gar unbewusst und damit kein Indikator latenter und individueller psychopathologischer Probleme einzelner Individuen. Sie entstehen nach bestimmten Mustern, die für alle Menschen, in allen Sprachen der Welt – sowohl in der Lautsprache, als auch in der Gebärdensprachen – stets in ähnlicher Weise ablaufen."

Versprecher im Zehn-Minuten-Takt

"Da müssen wir die Köpfe hochkrempeln." Pause. Lachen. "Und die Ärmel auch." Diese Worte des Fußballers Lukas Podolski ist eine der sprachlichen Fehlleistungen, die Eingang in die Versprecherdatenbank von Helen Leuninger gefunden haben. Die Professorin am Institut für Kognitive Linguistik an der Universität Frankfurt, hat weit über 7.000 Versprecher gesammelt, auch eine kleinere Datenbank "Vergebärdler", also Versprecher in der deutschen Gebärdensprache, gehört dazu.

Diese Sammlung soll vor allem Aufschluss über die Sprachproduktion geben. Die Idee einer solchen Datenbank stammt übrigens aus Österreich. Im Jahr 1895 präsentierte der Wiener Philologe Rudolf Mehringer eine Versprechersammlung, die Sigmund Freud dazu nutzte, um seine Idee des "Freud’schen Versprechers‘ zu etablieren.

Alle zehn Minuten vertauschen wir im Schnitt Silben, Laute, Wörter oder Redewendungen, also pro 1.000 Wörter ein Versprecher, schätzt Helen Leuninger. Auch für die Sprachwissenschafterin hätten Versprecher selten etwas mit einer außersprachlichen Situation zu tun. Am häufigsten sind demnach Vertauschungen, in denen ein Buchstabe oder eine Silbe an der falschen Stelle landet ("mit dem Zinger feigen") oder sogenannte Kontaminationen, bei denen es zu einer Vermischung zweier bedeutungsähnlicher Sätze – häufig Sprichwörter – kommt. Da wird dann aus "Da bin ich aus allen Wolken gefallen" ein "Da bin ich aus allen Socken gefallen".

Nicht auf den Lapsus hinweisen

Übrigens ist die Autokorrektur des Köpfe-krempelnden Fußballers eher eine Ausnahme. Selten nehmen sich versprechende Sprecher ihren Fehler überhaupt wahr. Helen Leuninger hat dazu einen Tipp: "Man sollte jemanden, der sich versprochen hat, nicht korrigieren. Das sorgt nur für Irritationen."

Irritieren lassen sich Psychoanalytiker wie Bodo Kirchner von der unnachgiebigen Meinung der Linguisten nicht. Die sprachwissenschaftliche Theorie will er gar nicht über den Haufen werfen. "Ich sehe das eher als Ergänzung." Der neurologische und sprachwissenschaftliche Ansatz seien wichtig, um zu verstehen, dass die Neuronen mit ihren Datenspeichern oft so nah beieinander liegen, dass das eine mit dem anderen verwechselt werden kann. "Aber das eigentlich Interessante an der Frage ist ja nicht, was jemand "verspricht", sondern warum er das tut." (Anja Pia Eichinger, 1.5.2018)